Mit der Chiffre "postmigrantische Gesellschaft" wird auf die politischen, kulturellen und sozialenTransformationen von Gesellschaften mit einer Geschichte der postkolonialen und der Gastarbeiter-Migration verwiesen. Der Begriff postmigrantisch versucht nicht, die Tatsache der Migration zuhistorisieren. Vielmehr beschreibt er eine Gesellschaft, die durch die Erfahrung der Migrationstrukturiert ist, was auch für alle aktuellen Formen der Einwanderung (wie Flucht, temporäreMigration) politisch, rechtlich und sozial bedeutsam ist. Auch wenn es schwierig ist, Postmigration imsoziologischen Sinne zu definieren, so treten überall im Alltag so etwas wie postmigrantischeSituationen auf, die dementsprechend die lebensweltliche Seite dieser Verhältnisse zum Ausdruckbringen: postnationale Wahrnehmungs- und Handlungsräume von Biographien, derenSelbstverhältnisse sich nicht unbedingt auf eigene Migrationserfahrungen beziehen, jedoch zwischenMehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierungen reflektiert und gelebt werden. Diesenersten Blick auf die Postmigrantische Situation will ich mit einem noch heute in seinem Verhältnisvon Bild und Text experimentell anmutende Buchprojekt von John Berger und Jean MohrArbeitsemigranten, Hamburg 1976, ausgehend von einer historischen Fotoausstellung überMigration, diskutieren. Es erscheint mir paradigmatisch für die sozialen und ästhetischenHerausforderungen, welche die Migration in den 1970er Jahren gegenüber den gängigen DiskursundDarstellungspraxen darstellte. Weder die Soziologie, der die Artikulationsweise dieses Buches zupoetisch und zu brüchig war, noch die Kunst, der die Ausstellung zu sozialpolitisch vorkam,vermochte den zentralen Effekt dieses Ereignisses zu begreifen: der - immer wieder - erste Blick derMigration, der erste Blick auf Migration. Doch erinnerte Migration ist zugleich keine gleiche undunschuldige Teilhabe an der Erinnerungskultur der Mehrheitsgesellschft: es ist eine Grenze! Wiekann man also diese Grenze in der Transkribierung und Adressierung von Zeugenschaft, ihre Geschichte als die Geschichte einer Störung oder eines Unbehagens mit ihrer Einschreibung insgeglättete nationale Narrativ repräsentieren wollen, ohne Herkunftsnostalgie zu betreiben? Wie kann man die kalte Ankunft im Münchener Hauptbahnhof, -meinen ersten Blick-, die verachtenden Blicke der First-Contact-Deutschen am Transitbahnsteig gemeinsam erinnern, ohne die Wut zunormalisieren?